Grenzwerte, Wissenschaft und Politik

Veröffentlicht am 24. Januar 2019

Die Debatte um Luftschadstoff-Grenzwerte haben wir ja schon länger – 2008 erzwang ich als Anwohner der Landshuter Allee in München vor dem EUGH das erste Urteil zu Feinstaub, das allen Bürgerinnen und Bürgern ein einklagbares Recht auf saubere Luft garantiert. Auch bei den Stickoxiden sind die Zweifel eigentlich ausgeräumt: der 40 µg/m³-Grenzwert ist streng, wenn auch nicht so streng wie in Österreich (35 µg/m³) oder der Schweiz (30 µg/m³), und richtet sich an der Gesundheit der Schwächsten aus, und das ist gut so.

Doch die aktuelle Debatte um die Grenzwerte für Stickoxide ist nach der jüngsten Meldung, dass gut 100 Lungenärzte den gesundheitlichen Nutzen Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide bezweifeln und eine Neubewertung fordern, noch einmal ordentlich hochgekocht. Das Fass zum Überlaufen gebracht hat für mich Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, der dies ausdrücklich begrüßte. Entsprechend kräftig habe ich auf Twitter und Facebook ausgeteilt.

Dürfen sich jetzt Ärzte nicht mehr öffentlich äußern? Sind Stickoxid-Grenzwerte die Zehn Gebote? Darf der Bundesverkehrsminister keine Debatten mehr begrüßen? Treffend zusammengefasst hat Joachim Müller-Jung die Debatte in der FAZ in seinem Beitrag „Was treibt die Lungenärzte an?“. Ich möchte hier auch versuchen, die Debatte aus meiner Sicht kurz einzuordnen.

Klar dürfen sich Ärzte (im aktuellen Beispiel waren es 112 Ärzte, aber auch Ingenieure, Physiker und Physiotherapeuten) mit ihrer Meinung zu allen möglichen Themen zu Wort melden. Klar können sie auch der Meinung sein, dass sie die Grenzwerte für falsch halten. Ärzte oder Wissenschaftler können sich gerne politisch äußern – aber genau das ist es, was im jüngsten Fall passiert ist, eine politische Meinungsäußerung. Und eben keine wissenschaftliche. Wer sich wissenschaftlich äußern will und will, dass dies einiges an Aufmerksamkeit bekommt, der oder die möge doch wissenschaftlich publizieren. Wenn man die bestehenden Grenzwerte, ihre Entstehung bzw. die Schädlichkeit von Stickoxiden wissenschaftlich in Zweifel ziehen will, wäre der übliche Weg die Veröffentlichung eines oder mehrerer Fachartikel – eine entsprechende peer reviewte Publikation in Nature oder einer anderen angesehenen Zeitschrift würde da sicher einiges an Aufmerksamkeit bekommen.

Wo liegt nun der eigentliche Skandal? Der Skandal liegt darin, dass ein amtierender Bundesverkehrsminister, der einen Amtseid geschworen hat und dessen Amtspflicht es ist, – innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs – Schaden von den Bürgerinnen und Bürger des Landes abzuwenden, eine nicht wissenschaftliche, sondern politische Meinungsäußerung von Ärzten als Beleg dafür nimmt, den bestehenden breiten wissenschaftlichen Konsens über die Schädlichkeit von Stickoxiden infrage zu stellen. Ich halte dies für eine grobe Verletzung der Amtspflicht – und es erinnert daran, wie viele Rechte, Evangelikale und Verschwörungstheoretiker in den USA seit Jahrzehnten, aber zunehmend auch in Deutschland versuchen, wissenschaftliche Erkenntnisse in unterschiedlicher Art und Weise in Frage zu stellen. Kann es denn nicht sein, dass sich die Klimawissenschaftler alle irren und der Klimawandel gar nichts mit CO2 zu tun hat? Kann es denn sein, dass die Evolutionstheorie gar nicht stimmt, die Erde erst, wie es in der Bibel steht, seit 6.000 Jahren existiert? Muss man deshalb nicht auch intelligent design gleichrangig zur Evolutionstheorie in der Schule unterrichten?

Wissenschaftlicher Konsens wurde schon oft durch neue wissenschaftliche Erkenntnis über den Haufen geworfen. Aber eben von Wissenschaftlern, die wissenschaftlich publiziert und geforscht haben und nicht von Politikern, die eine politische Meinungsäußerung von Ärzten mit einem neuen Erkenntnisgewinn der Forschung verwechseln. Hier sei angemerkt, dass keiner der 112 Unterzeichner Expertise auf dem Feld hat und auch Initiator Dieter Köhler zwar pensionierter Lungenarzt ist, aber keine einzige wissenschaftliche Veröffentlichung zum Thema Stickoxid aufweisen kann.)

Solange bestehende Grenzwerte gelten ist ein Bundesverkehrsminister von Amts wegen in der Pflicht, im Rahmen seiner Möglichkeiten deren Einhaltung sicherzustellen. Sollten Hinweise vorliegen, dass die bestehenden wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht mehr aktuell sind, könnte bzw. sein Haus eine wissenschaftliche Studie in Auftrag geben. Solche Reviews gibt es übrigens regelmäßig, sei es durch die Experten der Weltgesundheitsorganisation 2013 (mit dem Fazit, das gesundheitsrelevante Wirkungen von Stickstoffdioxid bereits ab einer langfristigen durchschnittlichen Exposition von 20 µg/m³ gerechnet werden muss) oder durch die EU, die ebenfalls die Grenzwerte regelmäßig auf ihre Wirksamkeit überprüft. Und sollte diese neue Erkenntnisse ergeben, auch andere Studien diese neuen Erkenntnisse bestätigen, dann wäre der richtige Zeitpunkt für eine öffentliche Äußerung des Ministers.

Nur genau das hat eben nicht stattgefunden. Wer sich ohne jegliche fachliche Begründung hinter diese Minderheit von 112 Unterzeichnern stellt, diskreditiert auch die Arbeit der mehreren tausend Lungenfachärzte in der Gesellschaft für Pneumologie, die Herrn Köhlers Aufruf nicht gefolgt sind. Ein Minister, der es seit Amtsantritt nicht geschafft hat, die Abgasproblematik in den Griff zu bekommen, ein Minister, der eine Bundesregierung vertritt, deren Management des Dieselskandals in den letzten mehr als drei Jahren eine einzige Blamage ist, der verletzt seine Amtspflicht, wenn er so tut, als habe ein politischer Aufruf einer Minderheit an Ärzten den gleichen Stellenwert wie Forschungsergebnisse der letzten 20 Jahre.